Prantls Blick: Ein infiziertes Gesetz
So ein Gesetz
gab es noch nicht. So
ein Gesetz ist ohne
Vorbild in der
Geschichte der
Bundesrepublik. Es ist
ein Gesetz, das sich
selbst zum Vollzug
bringt. Einer
ausdrücklichen
Verfügung, es
umzusetzen, bedarf es
nicht mehr. All die
grundrechtsbeschränkenden
Maßnahmen, die dort
aufgeführt sind, all
die Kontaktverbote,
die Ausgangssperren,
die Betriebs-,
Geschäfts- und
Schulschließungen, all
diese Eingriffe in den
grundrechtlich
geschützten
Handlungshorizont der
Bürgerinnen und Bürger
- sie treten
automatisch in Kraft,
sobald ein bestimmter
Inzidenzwert gegeben
ist. Sie treten in
Kraft ohne jeden
weiteren
Vollzugsschritt, ohne
jede weitere
Anordnung, ohne einen
Verwaltungsakt. Es ist
das Gesetz selbst, das
sie in Kraft setzt. Es
bedarf dazu nur der
Feststellung des
Inzidenzwertes durch
das
Robert-Koch-Institut.
Grundrechtsbeschränkungen
auf Knopfdruck
Der dort
festgestellte und
veröffentlichte
Inzidenzwert löst wie
auf Knopfdruck massive
Grundrechtsbeschränkungen aus. Der Rechtswissenschaftler Uwe Volkmann,
Professor für
Öffentliches Recht an
der Goethe-Universität
Frankfurt, nannte
daher das neue
Infektionsschutzrecht
soeben in der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung "eine
Polizeiverfügung, die
als Gesetz kostümiert
ist": In der
praktischen Konsequenz
führe das allerdings
dazu, dass sich Jede
und Jeder jeden Tag
auf der Homepage des
Robert-Koch-Instituts
über den aktuellen
Stand der für seine
Region ermittelten
Inzidenzwerte
informieren muss, um
festzustellen zu
können, welche
Regelungen für ihn
gerade gelten und
welche schon wieder
nicht - weil ja
womöglich die Werte
schon wieder gefallen
sind. Gewiss: Die
Medien werden bei
dieser Feststellung
kräftig helfen. Aber
den
virologisch-publizistisch-politischen
Corona-Verstärkerkreislauf wird dieses Procedere nicht beruhigen.
Maßnahmegesetz
mit allgemeiner
Geltung
Exekutive
Maßnahmen der
Gefahrenabwehr werden
mit diesem "Vierten
Gesetz zum Schutz der
Bevölkerung bei einer
epidemischen Lage von
nationaler Tragweite"
als Maßnahmegesetz mit
allgemeiner Geltung
erlassen: Es wird also
nicht "auf Grund eines
Gesetzes", wie es im
Artikel 2 Absatz 2 des
Grundgesetzes
eigentlich vorgesehen
ist, sondern
unmittelbar "durch
Gesetz" in die
Grundrechte
eingegriffen. Das ist
wirklich kein übliches
Verfahren, es ist, wie
gesagt, beispiellos;
aber es ist deshalb
nicht schon per se
verfassungswidrig. Ein
Gesetz, so könnte man
sagen, hat ja eine
hohe Rechtsqualität -
Maßnahmen, die
unmittelbar "durch"
Gesetz angeordnet
werden, seien also
mindestens so gut
legitimiert wie
Maßnahmen, die "auf
Grund" eines Gesetzes
angeordnet werden. Der
verkürzte Wortlaut im
Grundgesetz, wonach
"nur auf Grund eines
Gesetzes eingegriffen
werden darf" habe
damit zu tun, dass der
Verfassungsgeber
lediglich diese
Möglichkeit für
praktisch bedeutsam
gehalten habe. Das mag
sein. Denn das Recht
trennt üblicherweise
zwischen dem
allgemeinen Gesetz und
den untergesetzlichen
Regeln und Maßnahmen,
die die gesetzlichen
Vorgaben
konkretisieren und
vollziehen.
Kein
Rechtsschutz
Bedeutsam aber
sind die Rechtsfolgen
dieser gewählten
Rechtskonstruktion:
Gegen die Eingriffe
unmittelbar durch
Gesetz besteht kein
klassischer
Rechtsschutz. Man kann
gegen die quasi auf
Knopfdruck ausgelösten
Maßnahmen nicht klagen
- jedenfalls nicht vor
den
Verwaltungsgerichten.
Art. 19 Abs. 4 GG, der
den Rechtsweg gegen
Rechtsverletzungen
durch die öffentliche
Gewalt garantiert,
wird auf diese Weise
quasi ausgehebelt. Es
bleibt einzig und
allein die
Verfassungsbeschwerde
in Karlsruhe (und die
in letzter Minute ins
Gesetz eingefügte,
aber wenig
aussichtsreiche
Möglichkeit einer
Klage auf
Feststellung, nicht
von der Regelung
erfasst zu werden).Der Staats- und
Verfassungsrechtler
Christoph Möllers von
der Berliner
Humboldt-Uni bemerkte
dazu als
Sachverständiger im
Gesundheitsausschuss
des Bundestages ebenso
trocken wie richtig,
der Gesetzgeber bringe
damit das
Bundesverfassungsgericht
in eine problematische
Situation: "Es ist nun
erste und einzige
Instanz und muss die
Gesamtverantwortung
für die gerichtliche
Kontrolle übernehmen.
Institutionell kann es
dabei nur verlieren."
Was der Gesetzgeber
dem Verfassungsgericht
zumutet - es geht über
dessen Kräfte; quasi
ultra vires. Und es
verschenkt und
missachtet die
klärende wie
befriedende Wirkung,
die die klassischen
Fachgerichtsverfahren
haben.
Das
Gesetz schafft nicht
Vertrauen, sondern
Misstrauen
Regulär klagen
kann man nach der
neuen Rechtslage erst
dann, wenn man gegen
die gesetzliche
Vorgabe verstößt -
wenn man sich also
nicht an sie hält und
wenn deswegen eine
Sanktion, ein Bußgeld
oder eine Strafe
verhängt wird. Das
Gesetz mutet den
Bürgerinnen und Bürger
zu, das Gesetz erst zu
brechen, um sich dann
gegen die Sanktion
ordentlich wehren zu
können. Eine Werbung
für die Richtigkeit
und Sinnhaftigkeit
einer solchen
Konstruktion, konkrete
Vollzugsmaßnahmen
gleich in ein Gesetz
zu schreiben, ist so
etwas nicht. Zwar wird
jetzt allseits
beklatscht, dass nun
endlich der
Bundesgesetzgeber dem
föderalen Hin und Her
mit klarer Kante ein
Ende bereite, aber
wenn erst die Folgen
daraus sichtbar
werden, ist zu
befürchten, dass dies
letztendlich nicht
Vertrauen, sondern
weiteres Misstrauen
schaffen wird.
Darf
man ein ganzes Land
einsperren?
Für das
Misstrauen gibt es
zudem auch weiteren
und noch gewichtigeren
Anlass, der die
Grundrechtseinschränkungen
betrifft. Sind
Ausgangssperren
überhaupt geeignet,
einen erkennbaren
Beitrag zur
Pandemiebekämpfung zu
leisten? Warum ist der
Aufenthalt im Freien
vor 22 Uhr
ungefährlicher als
danach? Und warum
werden die Menschen in
warmen Sommernächten
in die engen Wohnungen
gezwungen? Reicht da
der Verdacht, dass
sich die Menschen
ansonsten auf den Weg
machen, sich draußen
treffen und
Abstandsregeln und
Kontaktbeschränkungen
nicht einhalten
werden? Darf man ein
ganzes Land
einsperren, um zu
verhindern, dass
nachts ein paar
Hundert Jugendliche an
der Isar feiern?
Nächtliche
Ausgangssperren wurden
bisher in der
verwaltungsgerichtlichen
Rechtsprechung als
unverhältnismäßiges
Mittel
eingeordnet. Ist das
ein Grund, um die
Verwaltungsgerichte
jetzt in dieser Frage
auszuschalten?Wie weit geht
eigentlich die
Generaldisziplinierungsgewalt
des Staates? Die
Verhältnismäßigkeit
von
Grundrechtseingriffen
setzt Differenzierung,
also die Prüfung von
Geeignetheit,
Erforderlichkeit, und
Zumutbarkeit voraus.
Fragwürdig und
problematisch ist es
deshalb, nur einen
einzigen Maßstab an
alles, auch
Unterschiedliches zu
legen und allein den
Inzidenzwert zu
nehmen, der die
bundesunmittelbaren
gesetzlich
festgeschriebenen
Gefahrenabwehrmaßnahmen
dann auslösen soll.
Ist das wirklich die
richtige Richtgröße?
Zweifel daran gibt es
viele.
Vom
Impfen und vom
Hundausführen
Vor vier
Monaten hat die
Impfkampagne begonnen.
Ein gesetzliches
Konzept für den
grundrechtlichen
Status von geimpften
Personen gibt es nach
wie vor nicht. Das
neue Gesetz erwähnt
das Problem nur am
Rande - und stellt den
Grundrechtszugang für
geimpfte Menschen ins
freie Ermessen des
Verordnungsgebers.
Fundamentale Fragen
sollen also in bloßen
Verordnungen geregelt
werden. Stattdessen
regelt das Gesetz
andere Dinge in fast
lächerlicher
Kleinteiligkeit - etwa
die Befreiung von der
Ausgangssperre beim
Ausführen des eigenen
Hundes.Das Anliegen,
bundesweit
einheitliche Regeln
bei der
Pandemiebekämpfung zu
schaffen, ist legitim.
Das neue Gesetz ist
aber das falsche
Mittel, es ist hastig
zusammengezimmert.
Nach so langer Zeit
ist das enttäuschend.
Die Corona-Bekämpfung
hat ein besseres
Gesetz verdient.
Der 1. Mai naht. Im Volkslied heißt es: "Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus, da bleibe, wer Lust hat, mit Sorgen zuhaus". Lust haben wir darauf eigentlich nicht.
Ich wünsche
uns, trotz alledem,
einen schönen Mai.
Ihr
Heribert Prantl,
Kolumnist und
Autor der Süddeutschen
Zeitung